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Wort zum Sonntag,Geistl. Begleiger Jens Hausdoerfer
19.11.2023

 

Lasst die Leute weinen!

 

Der November gilt als Monat der Trauer um die Verstorbenen, aber auch als eine Zeit der Melancholie und Traurigkeit allgemein. Das steht sicherlich damit im Zusammenhang, dass dieser Monat den Übergang vom Herbst zum Winter bereitet, dass die Tage kürzer und dunkler werden und dass wir sehen, wie in der Natur nach und nach alles stirbt. Da stellt sich leicht ein sogenannter November-Blues ein.

Traurigkeit, so sagt es uns die Psychologie, ist eine Basisemotion. Insgesamt gibt es derer sieben: Freude, Wut, Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung.

Sie sind – so sagt die Theorie – bei allen Menschen unabhängig von Kultur, Geschlecht und Alter zu finden. Und obwohl alle diese Emotionen also völlig normal und menschlich sind, scheinen sie nicht alle gleich beurteilt zu werden. Wut und Ekel z.B. sind verpönt. Freude dagegen teilen wir gerne mit anderen.

Mit der Traurigkeit ist das so eine Sache: Kindern gestehen wir gerne zu, auch einmal traurig zu sein. Bei uns Erwachsenen sieht es ein wenig anders aus:

Wenn wir Traurigkeit empfinden, verstecken wir sie gerne. Jeder soll schließlich gut drauf sein. Traurigkeit hat da keinen Platz. Wehe, es weint mal jemand offen irgendwo. Eine solche Situation überfordert uns gerne einmal.

Wohlgemerkt, es geht uns hier um eine Traurigkeit, die uns ab und zu und vielleicht jetzt im Herbst auch einmal öfter besucht.

Es geht nicht um Depression oder verwandte Krankheitsbilder. Hier ist die Traurigkeit zum Dauerzustand geworden und wirkt sich nachteilig auf alle Bereiche unseres Lebens aus. In solchen Fällen ist ärztliche Hilfe angesagt.

Zeitlich begrenzte Unzufriedenheit oder ein Anflug von Melancholie haben in der Regel und Gott sei Dank nichts mit einer echten Depression zu tun.

Ganz im Gegenteil: Es gibt eine Traurigkeit, die dem Leben positiv gegenübersteht:

Einfach mal heulen, melancholisch aus dem Fenster starren und im eigenen Saft schmoren, ohne gleich Ursachenforschung zu betreiben oder eine Rechtfertigung zu suchen – Traurigkeit macht Sinn.

Zum einen ist es eine natürliche Emotion, die uns das Leben mit all seinen Facetten spüren lässt und zum anderen können wir uns dadurch wieder besinnen und aus dieser Situation Kraft schöpfen. Traurigkeit ist also eine sehr aktive, lebendige Emotion.

Sie zwingt uns, anzuhalten und uns zu konzentrieren, und so ist es üblich, dass wir uns müder, langsamer und weniger empfänglich für äußere Reize fühlen.

Traurigkeit bringt uns dazu, dass wir uns für einen Moment von der Außenwelt zurückziehen und in uns selbst schauen, um zu erfahren, was passiert und was uns stört, verletzt und ärgert.

Denn nur dann können wir daran arbeiten und vielleicht unser Leben so verändern, dass wir mit neuem Mut einen Schritt nach vorn gehen können.

Wäre es also nicht viel sinnvoller, eine angestaute Traurigkeit ab und zu rauszulassen als zu riskieren, dass sich die unterschwelligen Molltöne dauerhaft im Gemüt festsetzen?

Also: Lasst die Leute weinen! Und gebt der Traurigkeit ein bisschen mehr Platz. Der November mag dazu eine gute Gelegenheit sein.

 

Jens Hausdörfer,
Geistlicher Begleiter Haus Volkersberg

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