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evg. Pfarrer Lübke Steffen 2022Wort zum Sonntag,
27.08.2023

 

Wahrheit gibt es nicht

Eine steile Behauptung, oder? Darf man so etwas sagen in Zeiten, wo so oft
bewusst mit Unwahrheit gearbeitet wird und Menschen manipuliert werden?
Darf ich als Pfarrer so etwas sagen, der ich doch für eine „höhere Wahrheit“
einstehen sollte?

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari erklärt, dass unsere Gehirne in einer Zeit entstanden sind, wo wir in kleinen Gruppen von nur wenigen Menschen zusammenlebten. Deshalb sind unsere Gehirne so aufgebaut, dass sie Probleme in überschaubaren Zusammenhängen lösen können. Das gilt für unsere Sicht der Welt, für unser Empfinden, was richtig ist und was falsch, gerecht oder ungerecht. Harari behauptet nun, dass unsere Gehirne nicht dafür geschaffen und auch nicht geeignet sind, die äußerst komplizierten Zusammenhänge, in denen wir heute leben, verstehen zu können. Selbst, wenn wir uns noch so viel Mühe geben: Wir sind alle überfordert. Und dann? Entweder wir ziehen uns zurück in eine gewisse Gleichgültigkeit. Wir können ja eh nichts ausrichten. Oder wir schließen uns dem Denken einer Gruppe an, damit wir uns bestätigt und aufgehoben fühlen, selbst wenn diese Gruppe den größten Unsinn für wahr hält. In beiden Fällen versuchen wir uns zu schützen vor der Überforderung. Und ist das nicht erlaubt? Ist es nicht sogar vielleicht manchmal lebens-Not-wendig geworden?

Schon Sokrates hat festgestellt: Jede Antwort, die ich finde, führt zu neuen Fragen. Es gibt immer nur vorläufige Antworten, niemals letztgültige. „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Wie gehen wir nun heute mit diesem frustrierenden Befund um, ohne die Flinte ins Korn zu werfen und aufzugeben oder uns abstrusen Verschwörungstheorien anzuschließen nach dem Motto: Besser irgendeine Antwort als gar keine?

Harari schlägt vor, in der Meditation einen Zugang zu uns selbst zu finden, zu unserer eigenen unmittelbaren Befindlichkeit. Denn nur, wer sich selbst möglichst unverstellt wahrnehmen kann, kann das auch mit anderen und der Welt tun. Uns so wahr- und anzunehmen, wie wir gerade sind, das ist schwieriger, als es sich zunächst anhört. Ganz schnell sind wir dabei, uns zu bewerten und uns zu be- und schließlich zu verurteilen. So machen wir es dann auch mit anderen.

Anerkennen, was ist, ist eine Kunst. Das heißt ja nicht, es auch für gut und richtig zu finden. Aber erst einmal zu akzeptieren: „Ja, so ist es jetzt. So bin ich jetzt.“, das ist ein heilsamer Schritt. Die Haltung, die in der Meditation entsteht, ist eine freundliche zunächst einmal mir selbst gegenüber. Und es ist eine gnädige Haltung: So, wie ich bin, bin ich: Heiter oder erschöpft, voller Wut oder Zuversicht, überfordert von den vielen Widersprüchlichkeiten in meinem Alltag, unruhig. Ja, so ist es jetzt. Vielleicht wird es anders. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Jetzt gerade ist es eben so. Und es gibt Gründe dafür. Manche liegen in mir selbst, manche außerhalb von mir. Oft kann ich es gar nicht so genau sagen. Aber so, wie es mir gerade geht, ist nicht einfach vom Himmel gefallen. Es geht mal nicht um Schuldzuweisungen. Es geht erst einmal um Annahme. Ist es mir erst gelungen, auf diesem Weg wieder zu mir zu kommen, finde ich vielleicht auch wieder zu einer neuen, wahrhaftigeren Verbundenheit mit der Welt.

Steffen Lübke,
Pfarrer für Krankenhaus- und Rehaseelsorge in Bad Kissingen

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