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Wort zum Sonntag, 16.10.2022

 

Höhenflüge und Freiraum

Liebe Leserinnen und Leser,

In schwindelerregender Höhe steht ein Mann auf einem riesigen Gerüst. Sein Kopf ist der gewölbten Decke zugewandt. In der einen Hand hält er den Pinsel, in der anderen eine bunte Farbpalette. Er bemalt das gigantische Deckengewölbe einer Kirche. 300 kraftvolle Figuren hat er entworfen. Mit ihnen wird er neun biblische Geschichten von der Erschaffung der Welt bis zur Sintflut darstellen. Viereinhalb Jahre harter Arbeit liegen vor ihm. Immer wieder wird er nicht bezahlt, es fehlt an Material, er erkrankt und Schimmelbefall droht sein Kunstwerk zu zerstören. Die meisten Menschen hätten wohl aufgegeben. Er arbeitet unermüdlich weiter. Niemand darf ihn stören und niemand darf ihm helfen bei dieser, auch körperlich, sehr anstrengenden Arbeit. Die anfänglich eingestellten Hilfsmaler hat er schnell verjagt. Nach dem Motto: „Lieber einsam, aber dafür genial“, entsteht, wie in einem Höhenflug, Bild um Bild. Alles trägt unverkennbar seine Handschrift. Er lässt sich von niemandem reinreden. Auch nicht bei jenem Fresko, das die Erschaffung Adams darstellt und das er im Gesamtaufbau sehr zentral platziert.

Auf der linke Seite des Bildes sitzt Adam zurückgelehnt auf der Erde. Von rechts kommend schwebt Gott Vater dynamisch auf ihn zu. Wie in einer Momentaufnahme strecken sich Adam und Gott die Hände entgegen, ohne sich jedoch zu berühren. Es ist der Moment in dem Gott dem Menschen den Lebensodem schenkt.

Vor ihm, dem großen Michelangelo (1475-1564), hat niemand Gottes schöpferische Kraft so dynamisch dargestellt. Obwohl auf eine einzige kleine Geste reduziert, geht von diesem Bild eine Faszination aus, die es bis heute zum weltweit bekanntesten Werk christlicher Kunst macht.

In dieser Momentaufnahme kommt Gott auf den Menschen zu, um ihm Lebensenergie und einen langen Atem zu schenken. Beides brauchte damals der begnadete Künstler und wir brauchen es in unserer Zeit.

Das beeindruckende Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle in Rom sagt mir: Gott berührt ohne zu vereinnahmen oder gar zu erdrücken. Wo Gott auf den Plan kommt, da bleibt Raum zum Atmen. Zwischen Adams und Gottes Hand hat Michelangelo, meines Erachtens, ganz bewusst einen Freiraum gelassen. Auch deshalb soll kein Mensch den anderen gängeln, einengen, niederbrüllen, mit Hass überschütten oder gar zerstören. Es geht um Freiheit, die dem Leben und der Menschlichkeit dient. Wir werden sie in den kommenden Monaten brauchen. Sie wird notwendig sein um durchzuhalten, gemeinsam nach Lösungen zu suchen und einander achtsam zu unterstützen. Zu solcher Freiheit sind wir fähig, sie kann beflügeln und sie ist ein Geschenk Gottes.

Jacqueline Barraud-Volk,
geschäftsführende Pfarrerin in der Evangelischen Kirchengemeinde Bad Kissingen
und Rundfunkpredigerin im Bayerischen Rundfunk

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